Martina Hagspiel,
Frontfrau Kurvenkratzer GmbH & Herausgeberin Kurvenkratzer Magazin

Schon mal einen Apfel gesehen? Blöde Frage, wer hat das nicht. Aber es gibt ja mehr Sorten, als man zählen kann, in unterschiedlichen Farben, Größen, Konsistenzen, Geschmacksrichtungen. Wer einen Apfel wissenschaftlich beleuchten möchte, kann das tun. So wird das gute Stück unter die Lupe genommen, vermessen, abgewogen, beim Wachsen beobachtet und der Flüssigkeitsanteil und Reifegrad bestimmt. Objektiv wissen wir nun bis in die kleinste Zelle fast alles über das gesunde Obst. Eine entscheidende Sache fehlt aber noch: der Erfahrungswert, und da gibt es nur eine Lösung: reinbeißen! Oder die Erfahrungen jener einbeziehen, die schon reingebissen haben.

Vollbremsung und neuer Beziehungsrahmen: Hello Gesundheitssystem!
Wir Österreicherinnen und Österreicher verfügen vergleichsweise über einen guten, niederschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung. So weit, so gut. Zeitgleich gibt es an vielen Stellen massiven Anpassungs- und Aufholbedarf – gerade im Feld der Patientenvertretung.
Ein Blick auf die Statistik zeigt, Österreich ist auf medizinischer Ebene weltweit in der ersten Liga vertreten. So glauben wir. Das bedeutet nicht, dass wir hierzulande in einer medizinischen Idylle leben. Kein Ponyhof, eher kalter Wind. Die Ergebnisse im Bereich der onkologischen Versorgung befinden sich im europäischen Mittelfeld. Ein fragmentiertes Gesundheitssystem und fehlende Daten über den Ausgang der Behandlungen lassen große Versorgungslücken offen. Und: Es fehlt die Patientensicht, und zwar nicht zu knapp.
Mehr als ein paar qualifizierte Stimmen rufen derzeit simultan nach einem Paradigmenwechsel. Warum? Weil Patientinnen und Patienten jene sind, die den bittersüßen Geschmack der Gesundheitsversorgung kennen und weil das österreichische Gesundheitssystem immer noch nicht weiß, was Patient Advocacy ist.

Who is …?

Patient Advocates, eine allzu sperrige, nicht verständliche Bezeichnung. Noch.
Auf dem internationalen Parkett ein selbstverständlich verwendetes Synonym für Interessenvertretung. Von wem? Von Patientinnen und Patienten.

Typischerweise handelt es sich bei Patient Advocates um (ehemalige) Patientinnen und Patienten oder deren Angehörige, aber es kann auch vorkommen, dass medizinisches Fachpersonal in diese Rolle schlüpft. Der gemeinsame Hintergrund ist direkte Betroffenheit und die Erfahrung aus der Praxis. Die Bestrebung dieser Personen ist es, die Interessen von Patientinnen und Patienten zu definieren, zu stärken und zu vertreten.

Patient Advocates oder auch qualifizierte Patientenstimmen können auf lokaler oder nationaler Ebene tätig sein. Als Individuum oder als Gruppe machen sie die Interessen und Lebensrealitäten von Patientinnen und Patienten vor gesundheitspolitischen und medizinischen Gremien sichtbar, fördern das öffentliche Verständnis für Krankheiten, treiben die Forschung voran, verbessern die Qualität der Versorgung oder beschäftigen sich mit legislativen und regulatorischen Fragen. Dabei wird der Mehrwert der patientenzentrierten Behandlung, die Vorteile der frühzeitigen Patienteneinbindung in der Forschung (bereits ab Studiendesign) und die Pluspunkte von qualifizierten Erfahrungsberichten erklärt, gefördert und gefordert.
Es geht um Transparenz und Patientenorientierung und darum, die Aspekte der Lebensqualität in die Versorgung einzubeziehen. Man könnte sagen, dass Patient Advocates in der Mitte zwischen Politik, Forschung, Industrie und den Betroffenen stehen und als quicklebendiges Bindeglied fungieren. Aber mit der Erfahrung durch den metaphorischen Biss in den Apfel.

Mit uns statt über uns

Wer sich an die Frauenbewegung der 1960er Jahre noch erinnern kann, weiß, wo die qualifizierte Patientenvertretung in Österreich steht. Man würde gern, aber es geht noch nicht so recht. Patient Advocacy hat noch einen langen Weg zur Systemrelevanz vor sich.
In der österreichischen Praxis haben qualifizierte Patient Advocates in Forschung und Entwicklung sowie gesundheitspolitischen Gremien (noch) keinen echten Platz, denn hierzulande wird aufgrund aktueller Gesetzestexte nicht zwischen Laienpatientinnen und -patienten sowie professionellen Patientenvertretungen unterschieden. Auch fehlen Erfahrung, Wissen und Verständnis der einzelnen Stakeholder, wann und wie professionelle Patientenstimmen in verschiedene Fragestellungen eingebunden werden können. Die Lieblingsthemen Patient Involvement und Patient Centricity werden nach wie vor ohne Einbindung der Patientensicht in Podiumsrunden diskutiert, aber immerhin sitzen inzwischen genug Frauen im Panel.
Es wird also primär über und nicht mit Patientinnen und Patienten gesprochen und entschieden.
Der Grund: Es gibt keine objektiven Rahmenbedingungen, wie z. B. eine offizielle Berufsbezeichnung. Trotz Qualifikation wird Patient Advocates immer noch der Laienstatus zugeschrieben.
Die Lösung scheint einfach. Wir brauchen ein grundsätzliches Verständnis dafür, dass optimale Versorgung nur dann gelingt, wenn der Kulturwandel Patientinnen und Patienten nicht nur mitgestalten lässt, sondern ihnen auch ein Stimmrecht gibt.
Professionelle Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter brauchen einen vollwertigen Sitz am Verhandlungstisch. Es ist an der Zeit, dass sie dazu eingeladen werden.