Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krisen (Geopolitik, Klima, Energie) abseits der Pandemie über die Zukunft der Gesundheitsversorgung nachzudenken, erfordert etwas geistige Akrobatik und gelingt wohl nur dann, wenn man den Blickpunkt von der reinen Versorgungslogik auf den größeren gesellschaftlichen Kontext lenkt. Und wie so oft war es auch hier die Pandemie, die uns zahlreiche neue Perspektiven eröffnet hat.
Ein Perspektivenwechsel erscheint mir dabei wesentlich:
Von „Health in All Policies“ zu „Public Health as a (key) pillar of societal wellbeing“
Spätestens seit der Ottawa-Charter 1986 ist verbrieft, dass Gesundheit nicht nur durch das Gesundheitssystem und hierbei insbesondere die Gesundheitsversorgung geschaffen wird, sondern dass es eben eine Vielzahl von Politik- und Lebensbereichen gibt, die entsprechend die Gesundheit von Individuen, aber auch der Gesellschaft und deren Subgruppen mitprägen. Vor diesem Hintergrund entstand das Leitmotiv von „Health in All Policies“. Dies brachte eine wichtige Kontextualisierung und ermöglichte es dem bis dahin in der Regel nicht hoch priorisierten Politikfeld „Public Health“ auch gegenüber anderen – oft um Ressourcen und mediale Aufmerksamkeit konkurrierenden Politikfeldern – Geltungsanspruch zu erheben und etwa in interministeriellen Arbeitsgruppen darauf hinzuweisen, dass auch Umweltfaktoren, Bildung oder Ernährung, aber auch soziale Absicherung und Arbeitsbedingungen einen gewichtigen Einfluss auf Gesundheit haben.
Im Laufe dieser Entwicklung wurde auch viel erreicht, indem etwa ein gemeinsames Verständnis geschaffen wurde und Kooperationen zwischen Sektoren, aber auch mit der Zivilgesellschaft etabliert wurden, die letztlich auch in den 10 Österreichischen Gesundheitszielen mündeten. Andererseits mussten die Repräsentantinnen und Repräsentanten der Gesundheit in den Arbeiten mit den anderen Politikbereichen immer wieder erfahren, dass „Health in All Policies“ zwar auf der Ebene der wechselseitigen Beiträge durchaus akzeptiert wurde, gleichzeitig aber auch klar war, dass das (implizite) Credo von Gesundheit als oberstem (Staats-)Ziel nicht uneingeschränkt geteilt wurde und in der Regel den Zielen der eigenen Ressorts aus durchaus nachvollziehbaren Gründen bestenfalls nachgeordnet war.
Die Pandemie hat hier unsere Sichtweise verändert. Mit einem Mal wurde deutlich, wie sehr der Schutz der Gesundheit von Mitarbeitenden und die Sorge vor Ansteckung das soziale Leben beeinflusst, und wie sehr die gebotene Reduktion der physischen Kontakte unsere gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aktivitäten erschüttern und mitunter nahezu zum Stillstand bringen kann. Und wir lernten (sowohl aus Sicht der Public Health als auch aus Sicht vieler anderer Politikbereiche), dass Gesundheit nicht als isoliertes Politikfeld zu betrachten ist, dem mittels „Health in All Policies“ Geltung zu verschaffen ist, sondern dass in der Tat die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche sehr viel enger interagieren als vielfach gedacht: Sei es im Rahmen von „One Health“, also dem Verständnis des Zusammenwirkens aller Bereiche der Lebenswissenschaften mit der Gesundheit der Bevölkerung, oder aber auch im Rahmen der „Resilienz“ von Gesellschaften und Sozialsystemen und damit der Bedeutung der sozialen Daseinsvorsorge, oder aber auch im Bereich der „Fair and Green Recovery“ als Konzept der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neuausrichtung. Public Health im Sinne einer universellen Gesundheitsversorgung ist in all diesen Ansätzen ein Schlüsselelement und zugleich nicht wegzudenkender Politikbereich – ganz auf Augenhöhe.
Wir haben also das Privileg – oder vielmehr die historische Chance –, im Rahmen der Ausgestaltung der Gesundheitsversorgung gemäß dem Public-Health-Prinzip auch an den großen Fragen unserer Zukunft und der gesellschaftlichen Wohlfahrt gemeinsam mit all den anderen Politikbereichen – wie Bildung, Soziales, Arbeit, Wirtschaft, Umwelt – mitzuarbeiten. Dieses Mandat wird uns derzeit zugesprochen.
Einlösen können wir es, indem wir aktiv und vorbehaltsfrei aufeinander zugehen, etablierte Netzwerke und Beziehungen nutzen und uns in neuen Formen der Kooperation einbringen. Und indem wir unser Gesundheitssystem beständig weiterentwickeln: zu mehr Inklusion, Niederschwelligkeit und auch Feinfühligkeit gegenüber den Gruppen, denen es nicht so leichtfällt, ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Dazu brauchen wir auch mehr Partizipation und Mitbestimmung, sodass wir letztlich viele Advokatinnen und Advokaten für Public Health und darüber hinaus gewinnen, um gemeinsam unser gesellschaftliches Wohlbefinden zu steigern.